Platon:
Politeia (Siebentes Buch)
106. a) Das Höhlengleichnis.
Beschreibung der Lage der Gefangenen
Nächstdem, sprach ich,
vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem
Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung,
die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In
dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie
auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber
herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von
einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen
dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer
aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich
erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. - Ich sehe, sagte er.
- Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die
Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und
von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. -
Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.
- Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß
dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen
haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand
der Höhle wirft? - Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind,
zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! - Und von dem Vorübergetragenen
nicht eben dieses? - Was sonst? - Wenn sie nun miteinander reden könnten,
glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen,
was sie sähen? - Notwendig. - Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte
von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie
würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? - Nein,
beim Zeus, sagte er. - Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes
für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? - Ganz unmöglich. -
Nun betrachte auch, sprach
ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es
damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt
wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu
gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen
hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu
erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er
sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen,
jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er
richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten
zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben,
was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? -
Bei weitem, antwortete er. -
106. b) Das Hinaufsteigen
zum Licht und das Wiederherabkommen in die Höhle
Und wenn man ihn gar in das
Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er
würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest
überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? -
Allerdings. - Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den
unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das
Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar
ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll
Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für
das Wahre gegeben wird. - Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich.
- Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und
zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der
Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf
würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten
und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr
Licht. - Wie sollte er nicht! - Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne
selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie
selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. -
Notwendig, sagte er. - Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es
ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume
und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. -
Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. - Und wie, wenn er
nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen
Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die
Veränderung, jene aber beklagen? - Ganz gewiß. - Und wenn sie dort unter sich
Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am
schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was
zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun
erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er
werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische
begegnen und er viel lieber wollen <das Feld als Tagelöhner bestellen einem
dürftigen Mann> und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche
Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? - So, sagte er, denke ich,
wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. -
Auch das bedenke noch,
sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben
Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so
plötzlich von der Sonne herkommt? - Ganz gewiß. - Und wenn er wieder in der
Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort
gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder
dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern,
würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen
von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche
hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen
wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch
wirklich umbringen? - So sprächen sie ganz gewiß, sagte er. –
106. c) Erklärung und
Anwendung des Bildes
Dieses ganze Bild nun, sagte
ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das
Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den
Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen
und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region
der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch
dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich
wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur
mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie
auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen
und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt,
erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft
hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es
sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. - Auch ich, sprach er,
teile die Meinung so gut ich eben kann. -
Komm denn, sprach ich, teile
auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher
gekommen sind, nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre
Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn so ist es ja natürlich,
wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält. – Natürlich
freilich, sagte er. - Und wie? Kommt dir das wunderbar vor, fuhr ich fort, daß,
von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich
übel gebärdet und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe
sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon
genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des
Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie
es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen
haben? - Nicht im mindesten zu verwundern! sagte er. - Sondern, wenn einer
Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, daß durch zweierlei und
auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in
die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und
ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn er eine
verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst
zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit
verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen,
durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen
ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber
bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so
lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Licht kommt. - Sehr
richtig gesprochen, sagte er. -
106. d) Folgerung, daß die
Erziehung nur als Umlenkung der ganzen Seele möglich ist
Wir müssen daher, sprach
ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung
nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten,
wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn
sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten. - Das behaupten sie freilich, sagte
er. - Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines
jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie wenn ein
Auge nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans
Helle wenden könnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem
Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden und des
glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei
das Gute; nicht wahr? - ja. - Hiervon nun eben, sprach ich, mag sie wohl die
Kunst sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und
wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das
Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht
gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern. - Das
leuchtet ein, sagte er. - Die andern Tugenden der Seele nun, wie man sie zu
nennen pflegt, mögen wohl sehr nahe liegen denen des Leibes; denn als in
Wahrheit früher nicht vorhanden scheinen sie erst hernach angebildet zu werden
durch Gewöhnungen und Übung; die des Erkennens aber mag wohl vielmehr einem
Göttlicheren angehören, wie es scheint, welches seine Kraft wohl niemals
verliert, aber durch Umlenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und
verderblich wird. Oder hast du noch nicht auf die geachtet, die man böse, aber
klug nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt,
worauf es sich richtet, daß es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen
dienen muß und daher, je schärfer es sieht, um desto mehr Böses tut. -
Allerdings, sagte er. - Ebendieses indes an einer solchen Natur, wenn sie von
Kindheit an gehörig beschnitten und das dem Werden und der Zeitlichkeit
Verwandte ihr ausgeschnitten worden wäre, was sich wie Bleikugeln an die
Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der
Seele nach unten wendet, würde dann, hiervon befreit, sich zu dem Wahren
hinwenden und dann bei denselben Menschen auch dieses auf das schärfste sehen,
eben wie das, dem es jetzt zugewendet ist. - Natürlich, sagte er. -
Und wie, sprach ich, ist nicht auch dies
natürlich und nach dem bisher Gesagten notwendig, daß weder die Ungebildeten
und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden noch auch die,
welche man sich immerwährend mit den Wissenschaften beschäftigen läßt? Die
einen, weil sie nicht einen Zweck im Leben haben, auf welchen zielend sie alles
täten, was sie tun für sich und öffentlich, die andern, weil sie gutwillig gar
nicht Geschäfte werden betreiben wollen, in der Meinung, daß sie auf die Insel
der Seligen noch lebend versetzt worden sind. - Richtig, sagte er. - Uns also,
als den Gründern der Stadt, sprach ich, liegt ob, die trefflichsten Naturen
unter unsern Bewohnern zu nötigen, daß sie zu jener Kenntnis zu gelangen
suchen, welche wir im vorigen als die größte aufstellten, nämlich das Gute zu
sehen und die Reise aufwärts dahin anzutreten; aber wenn sie dort oben zur
Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt
wird. - Welches meinst du? - Dort zu bleiben, sprach ich, und nicht wieder
zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren
Mühseligkeiten und Ehrenbezeugungen, mögen diese nun geringfügig sein oder
bedeutend. - Also, sagte er, wollen wir ihnen Unrecht zufügen und schuld daran
sein, daß sie schlechter leben, obwohl sie es besser könnten? –
Übersetzung: Friedrich
Schleiermacher (1768-1834)