Freitag, 8. November 2013

Das ideale Griechentum


Goethe wurde in der Rezeption der Antike inspiriert und beeinflusst von den Schriften des Archäologen und Kunsthistorikers Winckelmann, der in Rom als erster Ausländer mit der Aufsicht über die antiken Denkmäler beauftragt worden war. Die Bedeutung Winckelmanns für das Kunstverständnis der Klassik verdeutlichte Goethe später in seiner Schrift ›Winckelmann und sein Jahrhundert‹.

Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in 

der Malerei und Bildhauerkunst 

Johann Joachim Winkelmann, 1755

»Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, dass derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen. Die Kenner und Nachahmer der griechischen Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist gewisse idealische Schönheiten derselben, die, wie uns ein alter Ausleger des Plato1 lehrt, von Bildern, bloß im Verstande entworfen, gemacht sind. Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur, die idealische Schönheit die erhabenen Züge; von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche. Ich glaube, ihre Nachahmung könne lehren, geschwinder klug zu werden, weil sie hier in dem einen den Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen Natur ausgeteilt ist, und in dem anderen, wie weit die schönste Natur sich über sich selbst, kühn, aber weislich, erheben kann. Sie wird lehren, mit Sicherheit zu denken und zu entwerfen, indem sie hier die höchsten Grenzen des menschlich und zugleich des göttlich Schönen bestimmt sieht. Die edle Einfalt und stille Größe der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Sokrates’2 Schule.«

Anmerkungen:
1 Platon: griech. Philosoph (427-347v. Chr.), Schüler des Sokrates und Gründer der „Platonischen Akademie“, der ersten Philosophenschule und dem Vorbild der Universität, von der aus sich der Platonismus über die antike Welt verbreitete. Sein berühmtester Schüler ist Aristoteles.

2 Sokrates: griech. Philosoph (470-399 V. Chr.): Platons Lehrer Sokrates verfasste nichts Schriftliches, philosophierte nur mündlich und suchte sich auf den Straßen seine Gesprächspartner. Das Orakel von Delphi nannte ihn den Weisesten aller Griechen, nicht zuletzt weil er sich seiner Unwissenheit bewusst war (scio non scire – ›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹).





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